Sophie las alles, doch ihre Lieblingslektüre war die Erzählung vom Tod des Archimedes: Syrakuse wurde gerade von den Römern erobert. Ein Mann beachtet aber die Kämpfe nicht und zeichnet gedankenverloren Figuren im sandigen Boden. Auch als sich ein Soldat ihm nähert und ihm wütend Fragen stellt, scheint er diesen nicht zu hören! Kann es sein, fragt sich Sophie, dass diese Figuren so spannend sind, dass Archimedes darüber die ganze Welt vergisst?
Sie ist 13 Jahre alt und wir schreiben das Jahr 1789, in Paris. In den Straßen der Stadt tobt der Aufstand im Namen der Bürgerrechte. Vor dem Tumult hat sich Sophie in die geliebte Bibliothek geflüchtet, um sich dort diese mysteriöse Mathematik selbst beizubringen.
Ihre neue Marotte sehen ihre Eltern allerdings nicht gern. Klar sollte eine Bürgertochter gebildet sein, aber Mathematik? Doch Sophie lässt sich nicht von ihrer neuen Leidenschaft abbringen. Auch nicht, als die Eltern ihr Heizung, Kleider und Kerzen wegnehmen, damit sie nicht die Nächte bei Euler und Newton verbringt. Sie sammelt heimlich Kerzenstummel und wickelt sich in Decken ein. Da alles nicht hilft, lenken die Eltern schließlich ein.
Dieses Durchhaltevermögen braucht sie als Frau vor den etablierten Wissenschaftlern, auch wenn die Akademie ihre physikalischen Arbeiten 1816 mit einem Preis ehrt. An ihren Freund Libri schreibt sie: "Das ist wohl das Privileg der Damen, Komplimente zu erhalten und keine reellen Vorteile."
Daher benutzt sie häufiger das Pseudonym "Monsieur Le Blanc". Zum Beispiel im Briefwechsel mit dem großen Gauß. Sophie hätte ihm ihre wahre Identität vielleicht nie verraten, aber als sich die französische Armee unter Napoleon bedrohlich Braunschweig nähert, wo der prominente Briefpartner wohnte, bittet Sophie einen befreundeten Kommandanten, auf Gauß' Wohlergehen zu achten. Das tat er auch, und so hat ihn die Mathematik, oder vielmehr eine begabte Mathematikerin, vor dem Krieg beschützt.
Gauß hatte allerdings keinen Schimmer, wer seine mysteriöse Beschützerin aus Paris sein könnte. Noch mehr staunte er, als Sophie das Geheimnis lüftete. Und er verschwieg nicht seine Bewunderung für die Frau, die als eine der wenigen ZeitgenossInnen sein zahlentheoretisches Werk "Disquisitones arithmeticae" verstehen konnte.