"Und wie war´s heute in der Schule?", fragte ich routiniert. "Ma, bitte lass das. Wir sind keine Babies." Auch Melanie ist routiniert und schmeißt ihren Rucksack in die nächste Ecke. "Was denn? - Und zieht eure Schuhe aus!" Hannes: "Mathearbeit. Der Tag ist hin." "Oh Mathe is soooo langweilig. Immer nur nachmachen oder auswendig lernen. Und dann die verspuckte Sprache von Mathelehrerfreak Herrn X. Voll kränk!"
So geht das. Und am selben Abend saß mir eine junge Frau in der U8 gegenüber. Sie las ein Buch "DER KLEINE GEOMETER" und zeichnete dabei Linien in einen Block.
"Worum geht´s in dem Buch?", fragte ich die junge Frau. Sie schaute mich leicht abwesend an und sagte: "Es ist eine Einführung in die Geometrie für Kinder von Grace Young." Sie klappte das Buch zu. "Es ist von 1908, und da lernen Sie zum Beispiel, dass Sie niemals eine perfekt gerade Linie zeichnen können. Das ist aber nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass Sie sich eine gerade Linie vorstellen können!"
"Ja und was ist so besonders dran?" Nächste Station war der Alex und ich hoffte, sie blieb sitzen. Sie blieb und schaute auch viel freundlicher. "Erstens: Es lässt sich sehr gut lesen. Das ist ja häufig nicht wirklich so bei Mathebüchern und trocken ist es auch nicht, weil zweitens: Sie dürfen die ganze Zeit beim Lesen rumkritzeln. Sie werden sehen: Weil Sie kritzeln und basteln, entwickeln Sie ein Gefühl für Geometrie und sie lernen fast nebenbei. Mir macht´s Spaß. Leider gibt es das Buch nur ganz ganz selten. Wenn Sie mehr wissen wollen: Hier meine Karte."
Letzten Sonntag hat mir die junge Frau dann mal ihren KLEINEN GEOMETER geliehen und ich habe Melanie und Hannes zum GEOMETER-Lesen verdonnert.
Fazit: Endlich haben wir mal wieder richtig lang was zu dritt gemacht. Hannes und Melanie finden zwar Mathe in Kombination mit Schule immer noch furchtbar. Aber wir sind uns einig:
Wir wollen den KLEINEN GEOMETER in moderner Fassung!
Mehr über Grace Chisholm Young, die maßgebliche Autorin des KLEINEN GEOMETERS.
DER KLEINE GEOMETER - AUSZÜGE
Aus der Einleitung
"Du wirst ein Stück Holz oder Eisen einen festen
Körper nennen, aber sicher nicht das Wasser und noch weniger eine Wolke.
In der Geometrie indessen werden alle Dinge in unserer Umgebung als feste Körper
aufgefasst. Dabei beschäftigt sich die Geometrie nicht mit dem Stoff, aus
dem der Gegenstand besteht, es kommt ihr einzig und allein auf die Gestalt und
die Lage desselben an, die ja durchaus dieselben sein könnten, wenn der
Körper aus einer ganz anderen Substanz bestände.
In der Geometrie
sind für uns alle Dinge unserer Umgebung eben nichts als feste Körper.
In jedem Augenblick hat solch ein Gegenstand eine gewisse Lage, eine gewisse
Gestalt, eine gewisse Oberfläche. Diese Eigenschaften des Körpers
untersuchen wir, wobei wir uns aber wieder nicht mit Veränderungen befassen,
die jene in der Vergangenheit erlitten haben, oder in Zukunft noch erleiden
könnten. Zwar würde auch das zu interessanten Untersuchungen führen,
doch gehört dergleichen nicht zu den Aufgaben der Geometrie."
S. 2 f.
Gerade Linien und Vorstellungskraft
"Du siehst, dass gerade Linien nur
einen einzigen gemeinsamen Punkt haben können, denn zwei Punkte können
immer nur einer geraden Linie angehören, und nicht zwei verschiedenen Geraden.
Wenn zwei gerade Linien durch denselben Punkt A gehen, so wird A ihr Schnittpunkt
genannt. Wenn du zwei sich schneidende Linien ziehst, so hast du in ihrem Schnittpunkt
ein besseres Bild eines Punktes, als ihn dir ein willkürlich durch Bleistifttupfel
bezeichneter Punkt geben kann. Genau wie die wirkliche Linie nur Länge
und keine Breite hat, so hat der wirkliche Punkt weder Länge noch Breite."
S.11 f.
Quelle: Chisholm Young, Grace / Young, William (1908): DER KLEINE GEOMETER. Leipzig und Berlin.